Freitag, 12. Juni 2015

Michel Träumer ist ein Deutscher!

Im weiten Rund des wogenden, wütenden Weltgeschehens sitzt einer ganz verloren und alleine. Es ist der kleine Michel, Michel Träumer heißt er und kommt aus Deutschland. Er ist gerade mal wieder aufgewacht aus seinem tiefen Schlaf und schönem Traum.

Und das kam so:

Er schlief so tief wie lange nicht mehr und träumte von der gerechten Welt, in der es nicht nur Verbündete, sondern sogar Freunde gibt. Von einer Welt, wo keiner dem anderen ein Leid antut oder gar ein Geheimnis verrät oder ausspioniert. Alle arbeiteten zusammen für den Weltfrieden und niemand ist dem anderen gram und böse. Michel Träumer tauchte immer tiefer in diesen phantastischen Traum hinab und traf sich mit allen wichtigen und großen Leuten, die ihn in seinem Traum bestärkten. "Es ist alles zum Besten bestellt in dieser guten Welt", sagten diese hohen Herren und Damen zum kleinen Michel und lächelten ihn wohlwollend an. 

Aber urplötzlich, wie aus dem dunklen Nichts, polterte es an Michels Haustür und Fensterladen, es war ein Wind, Sturm sogar, der an seinem Heim zerrte und einen fürchterlichen Lärm machte. Das Fenster schlug auf, die Gardinen bauschten sich auf im Wind und der kleine Michel riss die verträumten und verschlafenen Augen auf, die er sich erstmal kräftig rieb, um klar sehen zu können, was da auf ihn eindrang. 

Es war die Wahrheit! Die schonungslose Offenbarung aller Dinge, vor der sich der Michel schon immer gefürchtet hatte. Aber die Wahrheit wich nicht von ihm, setzte sich sogar auf seine Bettkante und begann sogleich zu erzählen. Fing an von all den Missetaten, von denen es zu berichten galt und zuerst raunte sie dem Michel ins Ohr: "Die Welt ist schlecht!" Aber dann hub die Wahrheit an und holte weit aus: Sie erzählte dem Michel von bösen Mächten, die mit Lug und Trug, mit Diebstahl und Raub, und bösem Gerede ihr Dasein fristeten. Ja, gerade jetzt, so erzählte sie dem Michel, ist es besonders schlimm. Erst habe sie erfahren müssen, daß einjeder im Michelland "abgehört" werde und auch die Nachbarn und Freunde des Michel darunter zu leiden hätten. Ja, sogar Landsleute des Michel hülfen dazu, dass die Fremden ihr frevelhaftes Tun ungestört und erfolgreich betreiben könnten und rühmten sich dessen auch noch. Ein großer Schaden sei schon entstanden und die Nachbarn und Freunde würden schon unruhig und beschwerten sich bei der alten Hausmeisterin, die Michels Träume so gnadenvoll bewachte.

Und nun musste die Wahrheit dem Michel das Schlimmste sagen! "Du hast Leute gewählt und schickst sie in die große Stadt und dort in das alte Haus mit dem halben Ei auf dem Dach". "Ja, sagte der Michel erfreut, "die kenn ich, die sollen für mich das Land regieren und aufpassen, daß uns niemand ein Leid antut." Sogleich unterbrach ihn die Wahrheit, und eröffnete dem Michel, dass auch dort im hohen Hause kein Vertrauen mehr herrsche. "Ja, aber warum denn nur?" rief der kleine Michel aus. "Weil auch dort heimlich gelauscht wird!", tat ihm die alte Wahrheit kund. Alles würde ausgespäht und mitgehört, aufgeschrieben und weggetragen, erzählte ihm die Wahrheit. Michels Mund stand offen, seine Ohren konnten nicht glauben, was sie da hörten und er schlotterte am ganzen Körper vor Angst und Schrecken, die ihm mächtig in die Glieder gefahren waren. "Was soll nur werden?", rief er aus. Die Wahrheit schwieg und wollte sich zum Gehen wenden. Aber ein letztes Mal schaute sie dem kleinen Michel Träumer tief in die Augen und raunte geheimnisvoll: "Bald wird's einen großen Schlag geben und viel Geschrei, und einjeder wird durcheinander laufen, wie die Hühner im Hof, wenn der Habicht kommt." 

Im selben Moment ging mit großem Radau Michels Zimmertür krächzend auf und herein trat die alte Hausmeisterin Raute, scheuchte die Wahrheit zum Fenster hinaus, verschloss die Fensterläden und bettete den kleinen Michel Träumer wieder tief und gemütlich in seine Kissen und sagte streng, aber so liebevoll, wie sie gerade nur konnte: "So, jetzt schlaf wieder schön weiter, kleiner Michel. Die Mutti ist bei dir und passt auf, das du schön träumen kannst. Und ich vertraue dir noch an, was du nie vergessen darfst: "Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!". 

Mit diesen Worten ließ sie den armen Michel Träumer allein zurück in seinem Zimmer und ging rasch zu ihren Freunden aus aller Welt, den Zauberern und Wahrsagern, den trickreichen Künstlern, den Geschickten und Gesalbten und all den anderen, die sich für ebensolche Wichte der Macht hielten. Die ganze Nacht lachten und scherzten sie zusammen und freuten sich ihres Wohllebens, das ungestört so wie immer weiterging, denn Michel Träumer und seinen Genossen in den vielen anderen Kinderzimmern der großen, weiten Welt ging es allen gleich: Sie wußten, daß es etwas Wahres in der Welt wohl gibt, hatten davon auch schon selbst gehört, alleine die Träume waren soviel stärker und die Wahrheit wurde ja auch einjedesmal davongejagt von den Machtwichteln dieser Welt, dass für immerdar der tiefe Traum von was auch immer, aber eben ein Traum, die Menschen band und lenkte.




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